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Helmut Rosendahls Leben nach der Befreiung

Michael Janssen verfasste diesen Text anlässlich der Verlegung der Stolpersteine für Familie Rosendahl am 01.02.2018.

Wir haben bisher meistens Menschen gedacht, die ermordet wurden, unser Land verließen und denen wir nicht mehr persönlich begegnen konnten.

Ich möchte jedoch über die Begegnungen mit Helmut Rosendahl und seiner Familie berichten, die meine Frau und ich erleben durften.

Anlässlich der Enthüllung der Gedenktafel am Gangelter Rathaus im November 1991 wurden Gastfamilien für die Ehrengäste, Ehepaar Hartog und Ehepaar Rosendahl gesucht. Meine Frau und ich waren Mitglieder der Vorbereitungsgruppe für dieses Ereignis. Wir boten uns spontan an, Berta und Helmut Rosendahl in unser Haus aufzunehmen. Es folgten mehrere gegenseitige Briefe und lange Telefonate, bis wir die Rosendahls am 06.11.1991 in Schipol abholten. Wir hatten uns vorher noch nie gesehen, aber in der Menschenmenge sofort gegenseitig erkannt. Ein kleines älteres Paar mit leuchtenden suchenden Augen, die uns sofort entdeckten.

Die Fahrt durch die Niederlande hatte für Helmut großen Erinnerungswert, weil er sich ja dort jahrelang aufgehalten und versteckt hatte bzw. im Sammellager Westerbork interniert war. Wir erfuhren, dass Berta Ende der Dreißiger Jahre als Näherin aus dem Dreiländereck Ukraine-Slowakei-Ungarn nach Amsterdam gekommen war und dort ab 1940 nach dem deutschen Einmarsch von Niederländern, ähnlich wie Anne Frank, in Hinterhäusern und Schränken bis zur Befreiung versteckt worden war. Als Helmut nach seinem Leidensweg durch die verschiedenen Lager nach Amsterdam zurückkehrte, wurde eine Ehe nach jüdischem Brauch von einem Heiratsvermittler arrangiert. Ein jüdischer Rheinländer heiratete somit eine jiddisch sprechende osteuropäische Jüdin, die nicht mehr wusste und wissen wollte, zu welchen Staat ihre Geburtsstadt heutzutage gehört.

Sie bekamen ihre Tochter Lea und wanderten gegen 1950 in die USA aus. Dies hatten sie einem großzügigen Amerikaner zu verdanken, der aus Ungarn stammte und für hunderte jüdische Immigranten die erforderlichen Bürgschaften stellte. Ihre zweite Tochter Emy wurde auch bald geboren. Die Familie ließ sich im Großraum Los Angeles nieder. Hier besann sich Helmut seines erlernten Berufes. Er wurde wieder als Maler und Anstreicher tätig.

Hierdurch fiel ihm wieder ein, was ihm in seiner Jugend in seiner Heimat widerfahren war. Schlagartig, ab 1933, dem Jahr in dem er 16 Jahre alt wurde, wurden er und seine Glaubensgenossen so etwas wie Parias. Beinahe niemand von der übrigen Gangelter Bevölkerung wollte öffentlich dabei beobachtet werden, mit ihm und den anderen jüdischen Mitbürgern zu sprechen. Sein bester Schulfreund wandte sich von ihm ab. Es gab keine Möglichkeit in der Nähe eine Lehre anzutreten: “Für Juden verboten”. Was macht man bei solchen Problemen als Grenzbewohner? Man geht ins Nachbarland. In Schinveld absolvierte er eine Maler- und Anstreicherlehre.

Die dort erworbenen Fähigkeiten konnte er dann teilweise auch in den Häusern der Reichen und Schönen in Hollywood und Beverly Hills anwenden. Dadurch machte er sich einen Namen in der Immobilienbranche und wurde bei einem Häusermakler angestellt. Sein Englisch war stark durch seine deutsch-niederländische Herkunft geprägt. Da seine Kollegen irgendwie austauschbar wirkten, machte er großen Eindruck auf die Kunden, die sich an ihn als den “man with the accent” wandten, da sie ihm vertrauten. Als ich mit ihm zusammen 1993 in Los Angeles in einem Geschäft war, wurde er noch gefragt, wie lang er denn schon in den USA sei, da es doch mit seinem Englisch schon ganz gut klappe.

Später machte er sich selbstständig mit Hausverwaltungen. Seine Tochter Lea führt das Geschäft noch bis zum heutigen Tag.

Aber zunächst erlebten wir Gangelt durch die Augen von Helmut wie eine Momentaufnahme von 1938. Wir gingen durch die Straße und er erinnerte sich genau, wer zu jener Zeit in den verschiedenen Häusern gewohnt hatte und berichtete einige Anekdoten.

Wir dachten er sei daran interessiert, Altersgenossen wieder zu treffen. Das war jedoch nicht der Fall. Er wollte lieber jüngeren Deutschen begegnen, die aufgrund Ihres Alters unverdächtig waren an den Diskriminierungen und Gräueltaten des Dritten Reiches beteiligt gewesen zu sein. Dennoch empfing er zwei alte Gangelterinnen, die nicht zum Ausdruck brachten, nichts gewusst zu haben, sondern sich dafür schämten was in Gangelt besonders im Zuge der Pogromnacht geschah. Helmut entgegnete, dass sie damals auch aufgrund ihrer Jugend machtlos gewesen seien.

Bei der Gedenkfeier im Gangelter Rathaus im November 1991 berichteten Helmut wie auch Ernst Hartog über ihre erschütternden Erlebnisse. Er hielt auch Vorträge in Klassen, was er während eines ein paar Jahre später folgenden Besuchs noch einmal wiederholte.

Bei der Gedenkfeier äußerte er den Wunsch, man möge in Erinnerung an seinen in Mauthausen ermordeten Buder Erich gemeinsam das Lied “Ich hatt' einen Kameraden” singen. Die Zuschauer waren damit überfordert, da kaum jemand den Text noch kannte, da diese Art von Liedern nicht mehr üblich waren. Einige starke Stimmen retteten die Situation.

Helmut besuchte uns 3-4 Mal, das letzte Mal mit seiner Tochter Lea. Wir besuchten ihn 1993 in Van Nuys, einer Stadt im Großraum Los Angeles. Helmut sagte uns, dass er nicht mit seinen Töchtern über sein Schicksal hätte sprechen können, um ihnen Leid zu ersparen. Das galt jedoch nicht für uns. Es war für ihn vor größter Wichtigkeit über das zu berichten, was ihm und den vielen Leidensgenossen angetan worden war, um damit gegen eine Wiederholung solcher Gräuel anzugehen. Er erzählte uns an vielen Tagen und Stunden über sein Leben und seine Begegnungen. Dabei ging es nicht nur um das Traurige, sondern auch um jüdische Bräuche, wie die Zunft der Schnorrer, koschere Essenszubereitung, das System des Arrangierens von Ehen und ganz viele Anekdoten.

Seine Frau Berta freute sich, uns mit ihren deftigen ostjüdischen Gerichten zu verwöhnen, die uns gut mundeten aber von ihren Töchtern verschmäht wurden.

Für Helmut ging es in erster Linie darum, dass Toleranz zwischen den Menschen herrscht. Deshalb nahm er eine Aufgabe beim Museum of Tolerance in Los Angeles an. Dort hielt er Vorträge, mit denen er aufgrund seiner Erlebnisse zu mehr Toleranz aufrufen wollte. Seine Zuhörer waren z. B. Polizisten, die lernen sollten, sich gleich fair gegenüber allen Bürgern zu verhalten.

Vor etwa 10 Jahren ist er verstorben – aber noch ständig in unseren Gedanken. Ich muss gestehen, dass sich durch die Begegnung mit ihm meine Sicht auf die Dinge geändert hat. Denn er war ein weiser Mann.