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Die Geschichte von Helmut David Rosendahl

Die folgende Geschichte ist das Transkript einer Tonbandaufnahme, die beim Besuch Helmut David Rosendahls im August 1984 in Gangelt aufgezeichnet wurde.

Hans Beckers, Gemeindedirektor: Heute, am 20. August 1984, kam Herr Helmut David Rosendahl zu uns ins Rathaus in Gangelt und beehrte uns mit seinem Besuch.

Herr Helmut Rosendahl ist ein alter Gangelter. Mit ihm ist eine Korrespondenz geführt worden. Hieraus entwickelten sich dann einige Schriftsätze mit der Vereinbarung, daß es zu einem persönlichen Zusammentreffen kommt. An diesem Gespräch nahm auch Herr Dr. Piepers, ein alter Schulfreund des Herrn Rosendahl, teil. Er kam eigens aus Meckenheim am heutigen Tage nach hier. Mit von der Partie war auch Herr Kurt Pickert, ein Bekannter des Herrn Rosendahl. Herr Rosendahl kam gegen 16.00 Uhr. Nach einer allgemeinen Konversation wurde er doch gebeten, für die Nachwelt einige Ereignisse uns mitzuteilen, damit wir sie festhalten können, damit sie nicht verloren gehen.

Herr Rosendahl, ich möchte Sie herzlich bitten, so wie es Ihnen einfällt, uns etwas zu sagen, damit wir das später auch einmal nachlesen können, damit wir es auch weitergeben können. Ich möchte mich herzlich bedanken, daß Sie den Weg zu uns gefunden haben und im Laufe dieses Gespräches meine ich, sollten wir noch ein gemeinsames Anliegen mit Ihnen erörtern, das sich bezieht auf den alten jüdischen Friedhof.

Aus der Korrespondenz, die wir hier vorliegen haben, ist ja zu entnehmen, daß es eins Ihrer Sorgen ist, auch an die Soldaten zu denken, die im 1. Weltkrieg ihr Leben gelassen haben. Herr Dr. Piepers hat sich auch darüber bereits Gedanken gemacht, unser Vorschlag geht schlicht dahin, diesen Soldaten, diesen Gangelter Bürgern ein eigenes Denkmal aufzustellen. Wir sind Ihnen auch sehr dankbar, daß gerade diese Anregung von Ihnen ausgeht. Wir sollten uns auch überlegen, vielleicht wäre es denn möglich, bei Ihrem nächsten Besuch offiziell das zu enthüllen oder das mit einem kleinen Festakt sinnlicher Art zu begleiten.

Damit aber jetzt genug, Herr Rosendahl, bitte, wenn Sie uns nochmal kurz etwas aus Ihrer Lebensgeschichte sagen wollen, wären wir Ihnen sehr verbunden.

Helmut David Rosendahl: Vielen Dank Herr Beckers für die Worte, die Sie mir sagten und auch vielen Dank Herr Dr. Piepers, speziell hier herzukommen, um mich noch mal zu sehen und auch Kurt Pickert muß ich speziell danken, weil ich durch seine Korrespondenz und den Kontakt, den ich mit ihm über die Jahre hatte, nach Gangelt gekommen bin.

Ich werde jetzt Ihnen sagen, was für die spätere Generation vielleicht einmal interessant sein könnte, oder sollte sein, weil es wichtig ist. Jeder Mensch soll wissen, wo er herkommt und was die Vergangenheit war und was für die historischen Zwecke sehr wichtig ist.

Ich bin in Gangelt zur Schule gegangen bei dem Lehrer von Cleef, bei Fräulein Lellmann und Lehrer von den Driesch. Als ich 1949 das erste mal nach dem Kriege hier war, habe ich auch Lehrer von den Driesch besucht, als alter Schüler, und habe mich bedankt bei ihm, für das, was ich gelernt habe. Zu der Zeit hat mich jemand angesprochen mit dem Namen Staas. Das war ein Zahnarzt, den ich von früher kannte und von dem ich wußte, daß er sich sehr interessierte für die Geschichte von Gangelt und er wollte einige Fragen stellen, aber ich war zu der Zeit zu depressiert, daß ich ihm keine Antwort geben konnte.

Ich bin 1938 nach Holland gegangen. Ich hatte einen Paß bekommen hier und konnte nach Holland gehen, ich bin aber nach Holland nicht legal gegangen, weil man in Holland keine Ausländer zu der Zeit haben wollte, weil man genug Leute hatte. Ich war bekannt an der holländischen Grenze, weil ich in Schinveld das Anstreicherfach gelernt habe. Ich bin nach Schinveld gegangen und an der Grenze hat der Beamte gefragt: “Wo gehst Du hin?”, ich sagte: “Ich fahre eben nach Heerlen.”

Ich bin mit dem Fahrrad nach Heerlen gefahren und habe mir eine Fahrkarte gekauft nach Amsterdam und bin dann nach Amsterdam gegangen, wo ich eine Schwester hatte, habe in Amsterdam gewohnt bis zum Einfall der deutschen Truppen nach Holland. Zu der Zeit wohnte ich in einem anderen Ort bei Rotterdam, genannt Hellevoetsluis und nach dem Einfall, nach dem 14. Mai1, welcher auch mein Geburtstag war, es war an sich kein fröhlicher Geburtstag, haben die Holländer kapitulieren müssen und der Krieg war zu Ende.

In einigen Wochen mußten alle Juden, die in Hellevoetsluis wohnten, mußten von der Küste weg, weil man sie nicht vertraute. Ich bin zu der Zeit nach Hilversum gekommen und habe dann in Hilversum einige Zeit gewohnt. Da mein Vater und meine Mutter in Amsterdam wohnten, bin ich später nach Amsterdam gegangen und habe dort gewohnt, und auch meine Schwester. Meine Mutter ist Ende Juni 1939 in Amsterdam gestorben und ich wurde dann 1942 in Amsterdam verhaftet und wurde dann in ein Lager geschickt, welches man nannte “Westerbork”. Es war ein Konzentrationslager “Westerbork”.

Als ich in Westerbork ankam, mein Bruder Erich, welcher schon in Holland war und in Westerbork war, war dort Maschinist. An dem Morgen, als ich angekommen bin, am nächsten Morgen, ging der Transport weiter nach “Auschwitz” oder an einem anderen Ort, wo man die Leute direkt umbrachte, das war “Treblinka”. Im Konzentrationslager “Treblinka”1, dort sind die meisten Juden, die von Holland kamen, nicht weiter behandelt worden, man hat sie direkt in die Gaskammer geschickt – Männer, Frauen und Kinder, die immer dabei waren.

Und als ich angekommen bin, ist mein Bruder zu seinem Vorgesetzten gegangen. Der Mann hieß Türker und kam von Österreich. Er war ein politischer Flüchtling von Österreich, was die meisten Leute nicht wußten, und er war Chefmaschinist im Lager “Westerbork”. Mein Bruder war auch zu der Zeit Maschinist. Mein Bruder ging zu dem Herrn Türker und sagte ihm: “Mein Bruder ist heute Morgen angekommen aus Amsterdam, wahrscheinlich geht er morgen früh weg, ich gehe mit, weil ich meinen Bruder nicht alleine gehen lasse.” Der Mann, Türker, ist zu dem Lagerführer gegangen, zu dem SS-Lagerführer Gemmeker2, und hat dem Gemmeker vorgelegt, daß mein Bruder am nächsten Morgen auch weggehen will mit seinem Bruder und der Gemmeker hat den Türker gefragt: “Ist der Erich Rosendahl, ist er ein guter Maschinist”, sagte er, “Ja, sehr vertrauensvoll und verantwortlich”, sagte er, “Können sie diesen Mann gebrauchen?”, sagte er, “Ja, der kann Kohlen fahren ins Kesselhaus”.

So bin ich dann in Westerbork geblieben für 2 Jahre und bin am 2. oder 3. September 1944 mit meinem Bruder nach Theresienstadt gchickt worden. Da hat man gedacht, in Westerbork war es schlimm, jede Woche hat man da Transporte gesehen, Leute die nach Deutschland geschickt wurden. Man hat ihnen gesagt, sie gehen in ein Arbeitslager, aber warum kranke und alte Leute und Kinder in ein Arbeitslager schicken will, ist mir bis heute nicht bekannt. Man hat es auch nicht geglaubt. Ich habe niemals glauben können, daß so etwas passieren könnte.

Dann bin ich von Westerbork nach Theresienstadt gekommen. In Westerbork, das war sehr schlimm, weil jede Woche gingen 1 - 2 Züge mit 1.000 bis 3.000 Leuten nach Treblinka, Treblinka oder Auschwitz ist das selbe, weil es Vernichtungslager waren, wo man nichts andes gemacht hat, als den Leuten das Leben genommen.

Ich bin nach Theresienstadt gekommen und ich dachte, es ist schlimm in Westerbork. In Theresienstadt ist morgens jemand vorbeigegangen mit einem großen Lastwagen, nicht mit einem alten, mit einem Handwagen, wo man früher Pferde vorgespannt hatte. Da hatte man Leute vorgespannt, die sind gegangen von Haus zu Haus. Die Leute, die dabei waren, sind gekommen und haben die Leichen von den Leuten genommen und man hat sie bei den Händen und Füßen angepackt, 1, 2, 3 auf den Wagen geschmissen, wie man einen Sack Kartoffeln auf den Wagen schmeißt. Ab und zu ist mal eine Leiche runtergefallen, weil der Wagen zu voll war. Die Köpfe und die Arme haben so runtergehangen, wenn man aus der zivilisierten Welt kommt, sieht es doch nicht so gut aus und man hat gedacht, es ist furchtbar.

Aber das Schlimmste war noch nicht da. Nach 4 Wochen in Theresienstadt, wo ich auch meinen alten Vater zurück sah, Max Rosendahl, sind wir von da weitergebracht worden nach “Birkenau”. Birkenau ist eingeschlossen bei Auschwitz. Man ist dort hingekommen und mußten aus dem Viehwagen raus und es sind Leute dagewesen, die haben in jüdisch gesprochen, in jüdisch nur haben sie gesagt: “nur gesund, nur gesund”. Aber ich habe kein jüdisch verstanden und wußte auch nicht, was es heißt. Aber nachher habe ich erfahren, man soll keine Krankheiten erwähnen, man soll nur gesund sein, man soll so stark wie möglich sein, man soll nur gesund sein. Wenn man nämlich etwas sagte, es geht rechts oder links. Vor mir ist ein Mann gegangen mit einem Stock und er hat sich vor dem Kommandanten gestellt, in der Haltung eines deutschen Soldaten, und hat ihm gesagt seinen Namen, er war im Kriege verwundet und man hat ihm durch den Fuß geschossen. Und man hat ihm gesagt “Schade, daß man nicht mehr von dir geschossen hat, links ab.” Und das war das Ende von diesem Mann.

Jedenfalls als wir in diesem Lager gekommen sind, in Birkenau, da haben wir nur ein Lager neben dem anderen gehabt mit Stacheldrähten und elektrischen Drähten, das wenn man 6 m vor dem großen Draht ist, übergestiegen auf einen kleinen Draht, dann wurde man oft vom Wachtturm aus erschossen, wenn man nicht die Arbeit sich sparen wollte, daß man dazwischen durch die Leichen überall raussuchen mußte. Jedenfalls sind einem, wenn man im Lager ankam, die Haare stehengeblieben. Niemand hat auch etwas geheim gesagt, hier werden die Leute vergast. Wenn man mit jemanden zusammen gewesen ist und der eine ist nach rechts und der andere nach links gegangen hat man ihm direkt gesagt “Siehst du die Schornsteine da? Dort in den Schornsteinen, wo du den Rauch und den Gestank riechst und siehst, von diesen Leichen, die dort verbrannt wurden, da ist er, da ist der Kamerad.”

Und so ist es dort weitergegangen, man hat nur die Leute gezählt, man ist in ein Zimmer gegangen oder in einen Saal wenn man angommen ist. Man mußte sich ausziehen bis auf die Haut, man hat nichts anderes angehabt: Nicht mal die Strümpfe, keine Schuhe und da hat man alles liegen lassen. Man ist dann in den nächsten Raum gegangen, jemand hat ihnen zugeschmissen eine Unterhose und eine Hose und eine Jacke. Die Unterhose, die man den meisten Leuten zuschmiß war gemacht von einem Talf. Für denjenigen, der nicht weiß, was ein Talf ist, das ist ein Gebetsmantel, das ist das heiligste, was der Jude haben kann. Er hüllt sich in den Gebetsmantel, wenn er seine Gebete spricht und davon hat man Unterhosen gemacht, das heißt, wenn man sich schmutzig macht, das ist, was dieses Talf wert ist. Und so ist einer nach dem anderen verschwunden von den Leuten, die nach rechts und links gegangen sind, man hat sich wiedergesehen. Ich bin glücklicherweise mit meinem Bruder zusammengeblieben, bis 3 Tage.

Nach 3 Tagen hat man Leute gefragt, die arbeiten können, die zu einem Arbeitsplatz gehen sollen. Mein Bruder war ein Maschinist, er hat sich direkt zur Verfügung gestellt als Maschinist und ich wollte mit ihm gehen und er sagte: “Du bist Anstreicher, als Maschinist weißt du nichts. Es kann sein, daß du mit mir kommst oder es kann sein, daß du nicht mit mir kommst. Du bist kein Maschinist. Wenn man dir eine Frage stellt, weißt du nicht, was du machen sollst.” Er sagte: “Warte, laß mich mal sehen, was los ist und dann werde ich sehen.” Mein Bruder ist aus dem Saal rausgegangen und er war noch nicht 2 Minuten draußen da hat es mir leid getan, daß ich nicht mit ihm mitgegangen bin und ich gehe zur Tür und es steht ein SS-Mann vor der Tür und sagt: Barackensperre, du kannst nicht raus. Ich bin zurückgeblieben. Nachdem die Barackensperre in einer Abendstunde vorbei war, bin ich rausgegangen, aber ich habe meinen Bruder nie wiedergesen. Nun habe ich durch andere Bekannte erfahren, daß man ihn wahrscheinlich in ein anderes Lager geschickt hat als Maschinist und dort ist er gewesen. Er ist dann in verschiedenen Lagern gewesen und durch Dachau ist er geschickt worden nach Ebensee, wo ein Steinbruch ist. Im Steinbruch soll er am 22. Februar 1945 umgekommen sein und dort sind seine Reste in einem Massengrab begraben.

Ich bin von Theresienstadt einige Tage später nach Gleiwitz3 gebracht worden. In Gleiwitz hat man 4 Konzentrationslager gehabt. In den Konzentrationslagern haben die Leute gearbeitet. Dort waren die Lager Nr. 1, 2, 3 und 4. Vom Konzentrationslager 4 hat man niemals jemanden gesehen. Ich war in Nr. 1 und ich habe in der Eisenbahnwerkstätte dort gearbeitet und mußte Aufschriften machen “Deutsche Reichsbahn”. Ich bin dort von Oktober, bis die Russen nach Gleiwitz gekommen sind, geblieben. Wir sind über Tag oder des Nachts sind wir in die Eisenbahnwerkstätte gegangen.

Es hat natürlich keiner von uns einen Judenstern getragen, wir waren Häftlinge. Auf dem Kommandoplatz hat man antreten müssen und man hat gesagt: Häftlinge, still gestanden und Mützen ab also nur Häftlinge. Man hat nicht mal der deutschen Bevölkerung zeigen wollen, wen man dort hatte. Wir haben grauweiße Anzüge gehabt mit blauen Streifen drin und so sind wir mit 5 und 5 gegangen. Die SS ist mit Gewehren im Anschlag gegangen mit einem Kapo oder Gruppenführer. Das war ein Verurteilter, ein Zuchthäusler. Er hat die Aufsicht gehabt und auch er war ein Häftling wie wir, aber er hat die Aufsicht gehabt über die Juden und an der Seite ist die SS gegangen mit Gewehr im Anschlag.

Wir sind durch die Stadt Gleiwitz gegangen, es ist über Tag und morgens früh gewesen, aber ich habe niemals jemanden an einer Türe stehen sehen, niemals hat jemand uns angesehen, niemand hat uns marschieren sehen zu der Eisenbahnwerkstätte. Und das hat einen Grund gehabt, die SS hat den Leuten gesagt, auf den Wegen ist es ihnen bekanntgemacht worden: wir haben Häftlinge hier und wenn die Häftlinge flüchten wollen oder versuchen zu flüchten, werden wir schießen. Und wenn sie nun an einer Türe stehen oder an einem Fenster stehen, wir werden schießen, und was ihnen passieren wird, das ist dann ihre eigene Schuld. Natürlich hat man so die Leute ängstlich gemacht oder bang gemacht und ich habe niemals einen gesehen, der an der Türe stand.

So bin ich dann zur Arbeit gegangen. Mit 5 und 5 sind wir nebeneinander gegangen, die SS mit den Gewehren im Anschlag und man ist dort in der Eisenbahnwerkstätte abgeliefert worden und des Abends, oder nach 8 Stunden, ist man zurückgegangen ins Lager. Im Lager Gleiwitz wurde man dann noch gedrillt, oder die Betten waren nicht gut gemacht oder irgendetwas anderes und man mußte durch den Schnee rollen. Es hat aber in keinem Fall irgendetwas gegeben, daß man andere Kleider anziehen sollte oder etwas.

Ich bin in Gleiwitz gewesen von, wollen wir sagen von Oktober bis ungefähr zur Befreiung, das war Mitte oder Ende Januar, ungefähr. In der Zwischenzeit habe ich niemals etwas gesehen von reiner Wäsche oder reine Hosen oder eine andere Jacke, nichts hat man verändert. Dann hat man uns bedroht oder man hatte uns gesagt: “Wenn wir irgendwie an einem von euch Kleiderläuse finden, wird die ganze Baracke vergast.” Wir haben ungefähr 3.000 Leute im Lager gehabt und das Lager wurde jede Woche angefüllt mit ungefähr 300 Leuten, um 3.000 Leute zu behalten, weil 300 Leute irgendwie verschwunden sind. Man hat Leute genommen und hat sie auf 2 Stühlen gelegt, dann hat man ihnen die Kleidung abgenommen, dann haben sie ein paar Kugelwunden gehabt und ein Schild hat unten gestanden: “Ich versuchte zu flüchten, auf der Flucht erschossen”. Neben der Leiche hat ein Orchester gestanden von 3, 4 oder 5 Leuten, die haben dann die “Götter von Wagner” gespielt. Wie gut, oder wie schlecht, bis heute ist mir noch die Musik in meinen Ohren.

Einmal bin ich zurückgekommen im Lager. Es ist ein SS-Mann dort gewesen, der hat die Leute um sich hingehabt, sagte er: “Seid ihr hungrig?” - natürlich war jeder hungrig. Was wir bekommen haben, konnte man nicht von leben. Es war ein kleines Süßbrot mit einer Wassersuppe von Rüben gekocht und das war alt. Der SS-Mann sagte: “Seid ihr hungrig?”, ja haben die Leute alle gesagt. Dann hat er ein Butterbrot genommen und hat es in die Luft geschmissen und als es runterkam, sind all diese Leute über dieses Brot gefallen und man hat 4, 5 Tote liegen gesehen. Das war dann sein Spaß, da hat er ein großes Vergnügen gehabt. Jemand war mein Vorgesetzter in der Eisenbahnwerkstätte, er war von polnischer Abstammung, ob er ein Zwangsarbeiter oder freiwilliger Arbeiter war, er kam von Gleiwitz. Er sagte: bis du hungrig?, ich sagte: ja, er sagte: dann werde ich jetzt nach Hause gehen und mir mal ein gutes Nachtmahl essen - um etwas extras zu sagen.

Am 25. Januar 1945, ungefähr in der Zeit, hat man auf einmal begonnen, die schweren Maschinen aufzubrechen mit Brechblech, nicht Brecheisen, mit den elektrischen hydraulischen Brechhammern, und natürlich hat jeder gewußt, irgendetwas ist los, aber man hat uns nichts gesagt.

In der Zwischenzeit muß ich noch mal zurückgehen auf einen Vorfall im Lager. Was passiert ist: es sollen 2 Leute geflüchtet sein und damit jeder hier auch etwas lernt, sehr wichtig ist, ist sehr wichtig für das Leben, es sind dann 2 Leute geflüchtet, man hat sie an einem Sonntagnachmittag ins Lager gebracht in einer Leichenkiste. Dort sind sie rausgeklettert und man hat sie dann aufgehängt, öffentlich. Nun bin ich jetzt in der Zwischenzeit Fachmann geworden, wie man jemanden erhängt. Jedenfalls, man hat die Leute auf einen Tisch oder Stuhl stellen lassen und dann ist der Tisch zusammengefallen und die Schlinge soll sich umschließen und wenn der Mann fällt, sollte die Wirbelsäule brechen. Jedenfalls, der erste Mann fällt und die Wirbelsäule bricht und das war das Ende nach einigen Minuten. Der andere Mann ist nicht richtig gefallen, die Wirbelsäule ist nicht gebrochen und es hat 25-30 Minuten gedauert, bis der Mann erstickt ist, so daß man an ihm gezogen hat und was immer man machen konnte, um ihn noch wenigstens aus dem Leben zu helfen.

Jetzt wieder zurück zur Eisenbahnwerkstätte. Man hat zu der Zeit, ungefähr am 25. Januar, angefangen, die Maschinen aufzubrechen. Es sind hier und da Leute gewesen im Lager, die irgendwie von jemanden von der Außenwelt von den Zwangsarbeitern oder von den Leuten, die Vorleute waren in der Eisenbahnwerkstätte, daß man ihnen gesagt hat, die Russen kommen vorwärts. Ich bin mit einer holländischen Gruppe zusammen gewesen, weil ich von Holland dorthin kam. Verschiedene haben mir gesagt, es geht gut, es geht gut. Jedenfalls, keiner hat etwas gewußt, keiner hat etwas gesagt. Eines Tages gegen Mittag mußten wir zurück ins Lager. Dort hat man uns gesagt, wir werden in ein anderes Lager umziehen. Man hat uns nicht den Grund gesagt. Jedenfalls haben wir doch zu wissen bekommen, daß die Russen weiterkommen.

Wir sind dann des Nachmittags ausmarschiert aus dem Lager und sind ungefähr 2 Tage unterwegs gewesen nach Blechhammer4. Blechhammer sollte so ungefähr 20 Kilometer von Gleiwitz sein. Die Leute, die unterwegs nicht weiter konnten, sind an der Seite erschossen worden. In Blechhammer sind wir angekommen. Man hat uns gesagt, daß die Russen zurückgeschlagen worden sind und hier werdet ihr bleiben. Nachdem wir dort ungefähr eine Nacht geschlafen haben, wir hatten nicht mal 1 Nacht, gegen 4 Uhr hat man uns aufgeweckt, es waren zu der Zeit 10.000 Leute im Lager, aufstehen und ausmarschieren.

Ich wollte niemals der Erste oder Letzte sein und auch nicht am Ende der Kolonne gehen, wo man mit 5 und 5 ging, bin ich etwas langsam gewesen, ich war zu langsam, und bin dadurch zu spät rausgegangen und wollte ausmarschieren. Und als ich am Tor gekommen bin, stand dort ein SS-Mann und der sagte zu mir: “Wo willst du denn hin?”, ich sagte: “Ausmarschieren.”, er sagte: “Du bist doch schon ein Muselmann du kannst nicht mehr ausmarschieren.”, ich sagte: “Ja, ich kann noch gut laufen.” Jedenfalls hat er mir mit seinem Stock, den er hatte, mir eine über die Schulter gegeben und ich weiß das auch nicht mehr so genau. Mit anderen Worten, ich mußte zurückgehen. Ich bin zurückgegangen und habe mir gedacht, wenn du ein Muselmann bist, dann ist das ja sowieso das Ende und wer weiß, was sein wird, vielleicht ist es gut, daß das Ende kommt. Jedenfalls bin ich zurückgegangen und habe mir oben auf dem 3. Bett gelegt und habe gedacht, wenn sie mich schon erschießen wollen, was ich unterwegs ja dauernd gesehen habe auf dem Marsch, dann sollen sie es nicht so einfach haben und mich nicht so schnell finden.

Es sind ungefähr 800 Leute im Lager zurückgeblieben als Muselmann, so über 9.000 Leute sind ausmarschiert. Diese Leute sind weitergeführt worden, bis fast keiner mehr übrig war von den meisten Leuten. Da waren sehr viele Leute aus Holland bei, die ich kannte. Da ist keiner zurückgekommen, die sind alle umgekommen bei “Großrosen”, hieß der Ort, der bekannt ist.

Ich möchte hier noch eins sagen. Es steht in der Bibel irgendwo geschrieben, vielleicht werde ich das auch nicht richtig sagen, aber jedenfalls steht es in der Bibel geschrieben, daß 1.000 Jahre oder 3.000 Jahre in Gottes Gedanken nur 1 Tag ist. Und ich möchte das umdrehen und sagen, 1 Tag im Konzentrationslager, ist wie 3.000 Jahre im Leben und wenn man mir heute die Frage stellen würde: Ja, hier, du kannst noch mal 20, 30 Jahre weiterleben und mußt dasselbe mitmachen, würde ich sagen: … besser ist, wenn man das nicht zu erleben hat. Es ist zu schwer für einen Menschen, das zu ertragen.

Jedenfalls, ich bin in Blechhammer geblieben und in der 1. Nacht sind 2 SS-Leute gekommen, die haben die Leute aus den Baracken genommen und haben sie mit in den Wald genommen. Man hat 200, 300 Leute erschossen. In der 2. Nacht ist dasselbe passiert. Warum man in der 1. Nacht nicht alle Leute genommen hat weiß ich nicht und es ist mir auch nicht bekannt. In der 3. Nacht als sie zurückkamen, sind sie eine russische Patrouille in die Hände gelaufen und die Russen haben sie dann wahrscheinlich erschossen oder gefangengenommen oder was passiert ist. In der Zwischenzeit, als die SS weg war oder die SS ausmarschiert war, zur selben Zeit hat man alles, was einem von Nutzen sein konnte, wie z.B. die Küche oder Lebensmittel oder alles hat man in die Luft gesprengt, so daß keiner etwas gebrauchen konnte. Auch die Häftlinge, die zurückgeblieben sind im Lager, konnten nichts gebrauchen. Aber nach einigen Tagen waren doch Leute da, die stärker waren als ich und die sind dann aus dem Lager rausgegangen.

Direkt dabei war eine Kartoffelmiete und man hat dann Kartoffeln herausgenommen und man hat ein Feuer gemacht und hat Kartoffeln gebraten oder gebacken. Ich habe selbst Kartoffeln genommen, habe sie an einem Eisendraht gesteckt, ins Feuer gehalten und habe gesehen, daß ich sie verbrennen sollte so viel wie möglich als Kohle, weil ich irgendwo gelesen hatte, daß es gut ist für Durchfall. Den Gedanken habe ich zu der Zeit gehabt. Da dachte ich, jetzt wird das Leben vorbeigehen. Wenn ich schon bestimmt bin um weiterzuleben, dann muß ich jetzt abwarten, ich will nicht die letzte Minute verlieren.

Ich bin dann dort in Blechhammer für einige Wochen gewesen und dann sind die Russen gekommen und haben uns gesagt: ihr müßt von hier weg, es könnte sein, daß die Deutschen zurückkommen und uns zurückschlagen, was uns schon passiert ist, das ist zu gefährlich. Man hat uns dann auf Güterwagen, die bestimmt waren für andere Sachen, da wo die Bretterhäuser, die auf den Güterwagen gestanden haben, draufgelassen und nach Katowitz5 gebracht, von Katowitz nach Krakau, wo ich dann 3 Wochen gewesen bin. Was ich niemals gehabt habe im Lager und wofür man uns immer Angst gemacht hat, waren Kleiderläuse. Die habe ich in Krakau bekommen oder Katowitz. Dort gibt es eine Grube, die Ferdinandgrube6. In der Ferdinandgrube haben wir im Direktionsgebäude geschlafen auf Stroh, jedenfalls haben wir Kleiderläuse gehabt und kamen da nicht von ab.

Nach 3 Wochen hat man uns mit einem Zug nach Tschernowitz7 gebracht. Tschernowitz, das ist mehr zurück, das ist eine rumänische Stadt, wo der Bahnhof unten ist und die Stadt oben. Dort haben die Russen uns in ein Lager gebracht und haben uns da mit den nötigsten Lebensmitteln versorgt, die nötig waren. Aber nach unserer Meinung war es zu wenig Essen, haben wir gesagt. Bis ein russischer Arzt gekommen ist und er hat gesagt: wenn wir euch nicht das Essen vorsetzen, was nötig ist, werdet ihr euch alle zu Tode essen. Ich selbst habe nicht mal eine Hose finden können, die mir nach 6 Wochen gepaßt hat. Die mußte offen bleiben. Was habe ich darüber getragen? Einen Wachmantel von der SS, weil mein Bauch zu dick war, weil ich keine Hose tragen konnte. Die Russen haben uns dann auf normales Essen gestellt und gesagt: “Wenn wir euch das Essen geben, so wie ihr essen wollt, eßt ihr euch zu Tode.” Es sind auch Leute bei uns gewesen, die nicht mehr aufgehört haben, die das Essen gestohlen haben. Sie haben sich zu Tode gegessen. Dort sind wir einige Monate geblieben, bis der Krieg zu Ende war, das war im Mai.

Im Juni hat man uns mit einem Transport über Berlin nach Hause gebracht. Ich bin in Berlin gewesen, an dem Tage, als Stalin sich getroffen hat mit dem Truman. Präsident Truman und Churchill waren in Potsdam und haben sich getroffen, das war im Juli 1945. Ich habe auf der, ich glaube das heißt Mittelbahn in Berlin, dort haben wir im Wagen geschlafen und ich habe 3 Züge gesehen mit schwerer Bewachung. In einer von den Zügen hat der Stalin gesessen und ist dann nach Potsdam gekommen. Da wir schon in Berlin waren, haben wir irgendwie mit der Untergrundbahn Verbindung gehabt und sind nach “Berlin Tempelhof”, wo die Amerikaner waren, die haben uns dann zurückgenommen, nach Westen zu Hannover gebracht worden.

Von Hannover habe ich einen Zug bekommen nach Holland. In Holland bin ich angekommen in Enschede und das erste, was die Leute in Enschede gemacht haben, das war, man hat uns in eine Kleiderfabrik oder in eine Textilfabrik gebracht und unsere Kleider weggenommen und hat sie in einen Ofen gesteckt für 2-3 Stunden, um die Kleiderläuse zu vernichten. Die Kleiderläuse haben so stark darin gesessen, man hat gewaschen, man konnte die Kleider in heißes Wasser waschen und die Tiere haben in kaltes Wasser gelebt. Man hat frieren können und nach dem Auftauen sind die Kleiderläuse wieder dagewesen.

Dann bin ich zurückgegangen nach Amsterdam, wo mein alter Vater war. Er war schon zurückgekommen von Theresienstadt. Ich bin dann nach Amsterdam gegangen und habe dort meinen Vater zurückgesehen oder gefunden. Das erste, was ich gefragt habe: “Hast du was von Erich gehört?” Und er hat natürlich gesagt, daß er nichts von meinem Bruder Erich gehört hat und natürlich wußte ich sogleich. Ich hatte wirklich keine große Hoffnung, aber ein Mensch hofft doch letztlich, bis zum letzten Moment denkt er, daß es doch nicht so sein soll, wie es ist. Keiner hält sich an einem Strohhalm oder ein Mensch muß sterben und jeder andere denkt, es ist noch nicht das Ende da und so habe ich dann doch annehmen müssen, daß mein Bruder umgekommen ist. Nach einer gewissen Zeit hat man mir gesagt, man könnte ans “Rote Kreuz” schreiben. Das Rote Kreuz hat mir dann nachher eine Mitteilung geschickt, daß mein Bruder wahrscheinlich am 22. Februar 1945 in Ebensee, das ist in Österreich, umgekommen ist.

Ich bin 1981 von Los Angeles nach Europa gekommen. Es war eine spezielle Reise um dort nach Ebensee zu gehen und vielleicht ein Grab zu finden, welches von meinem Bruder sein könnte. Ich bin aber dort hingekommen, man hat nur Massengräber gehabt und niemand hat gewußt, wer darin war. Es ist jemand dort gewesen, der auf den KZ-Friedhof aufpaßte. Der Mann hat eine Liste gehabt, aber es war nicht die Liste. Er hat gesagt, es sind sehr viele Leichen hier drin begraben, wo wir überhaupt keine Namen von haben und überhaupt nichts von wissen. Wenn man durch Europa oder wenn man durch Deutschland fährt in einem Viehwagen nach Theresienstadt. Die anderen Leute sagen, es ist so ein schönes Land, dann hat man natürlich andere Gedanken. Jedenfalls, als ich 1981 in Österreich gewesen bin - ich bin von Amsterdam mit dem Auto durch Deutschland über Frankfurt nach Österreich gefahren – Die Landschaft ist wunderschön. Ich bin sehr auf die Natur eingestellt. Speziell als ich nach Österreich gefahren bin, die Berge, die Seen, die Häuser, es war so schön, daß man sich gewundert hat, wie eine Generation, wie Menschen so etwas an Menschen machen können.

So ein schönes Land, so eine schöne Natur und dann werden Menschen ermordet, die unschuldig sind von A - Z. Nur weil sie eine andere Religion haben und der Hass, der Rassenhass, geht weiter und auch heute noch.

Ich habe noch eine kleine Sache, die … es ist nicht so eine kleine Sache, aber jedenfalls eine Sache möchte ich noch dabei aufmerken.

Man hat Experimente im Lager ausgeführt. Es ist eine Frau in Birkenau angekommen, sie war hochschwanger, man hat ihr gesagt, daß sie Zwillinge erwartet. Man hat sie gut behandelt. Die Frau hat Zwillinge bekommen und eine Stunde später ist ein SS-Mann gekommen und hat die Zwillinge, einer bei den Füßen genommen und gegen die Wand geschlagen und das andere Kind nach dem, die Mutter hat zusehen müssen, wie man ihre Kinder ermordet hat.

Zur selben Zeit, möchte ich hier noch aufmerken, wenn man in Birkenau angekommen ist, hat man gesehen, einen Vater mit seinen Sohn, man hat nicht beide leben lassen. Man hat den Vater oder man hat den Sohn oder die Kinder weggeschickt auf die Seite, wo man sie vergast hat. Ich bin in Westerbork gewesen und möchte das hier sagen. Es ist jemand gekommen, der hat gesagt, er hat an einen englischen Radio gehört, daß 70.000 Juden in einem Konzentrationslager ermordet worden sind. Ich mit meinem großen Mund habe gesagt: “Es werden wohl 69.999 gewesen sein, Propaganda, das glaube ich nicht.”, das kann ich nicht begreifen.

Bekannte von mir, ein älterer Mann, ist in Hilversum verhaftet worden und wurde in ein Lager gebracht, nach Vught8, das ist bei s’Hertogenbosch. Man hat ihn dort sehr geschlagen und man hat einen Krüppel aus ihm gemacht. Dann ist er nach Westerbork gekommen mit einem Transport und man hat ihn auf eine Tragbahre ins Krankenhaus gebracht. Dort ist er für 6 Wochen gehalten worden und man hat ihn wieder ziemlich in Ordnung gebracht. Natürlich, wenn man so etwas sieht, kann man nicht glauben, daß so etwas passieren soll, daß jemand so etwas macht, daß man irgendwie verkehrt ist. Da kommt der Mann an, ist 3/4 tot, man bringt ihn wieder auf. Ich sagte: der Mann ist in Ordnung gewesen. Es gibt in Utrecht bei Amsterdam einen Doktor, einen Professor, Fritz Schwartz, der das auch mitteilen kann. Er war ein Bruder oder Helfer im Krankenhaus. Dort habe ich ihn gefragt, was der Mann macht. Er sagte: es geht gut, es geht gut, er kommt schon ziemlich auf die Beine, es wird in Ordnung. Ein paar Wochen später ist eine Frau gekommen, natürlich hat man seine Frau auch weitergeschickt, und da man doch die Familie zusammenhalten wollte, was die “SS” gesagt hatte, hat man den Mann auf eine Tragbahre bis zum Zug gebracht und man hat ihn in den Güterwagen hingelegt und dann ist er nach “Treblinka” gekommen, dann hat man ihn in Treblinka in die Gaskammer gebracht mit seiner Frau.

Hans Beckers: Ja, Herr Rosendahl, wir sind still geworden, wie sie Ihre Worte, wie Sie Ihre Lebensgeschichte von sich gaben. Wir können keine Antwort geben, wir können sie im Augenblick auch nicht finden. Aber was wir hörten, wird uns doch dazu verleiten müssen, das alles festzuhalten, wenn es eben geht mit Hilfe des Herrn Zimmermann in die Öffentlichkeit zu bringen. Wenn Sie damit einverstanden sind, wollen wir das stellvertretend für Sie tun, damit die Leute, die das heute noch nicht recht glauben wollen und immer noch besser wissen wollen, belehrt werden. Es soll aber gleichzeitig auch eine Dokumentation sein für die Generationen, die nach uns kommen. Mit allem dem soll die feste Absicht verbunden sein, möglichst auch selbst dafür einzutreten, daß sich so etwas Schreckliches nicht wiederholt. Wir versprechen Ihnen, in Ihrem Sinne, so wie Sie es uns geschildert haben, zu wirken, damit wir das Gemeinsame, was wir haben, festigen zur Förderung der Menschlichkeit und das gegenseitige Verstehen: Dr. Piepers, ich möchte Sie auch bitten, unter dem Eindruck, den wir haben, doch einige Worte auch zu sagen, damit wir das auch festhalten können.

Dr. Piepers: Lieber Helmut, es ist nun fast ein Menschenleben her, daß wir uns hier trennten. Wir waren zusammen in der Volksschule, nur einige Meter hier von dem neuen Rathaus in Gangelt und dort haben wir uns zuletzt gesehen. Für Dich führte der Weg nach Westen zunächst, für mich führte er nach Osten. Was Du uns hier in einem Bericht hast miterleben lassen, das sind Dinge, die wir nicht glauben konnten und beinahe auch heute noch nicht glauben können. Aber ich finde es vorzüglich, daß wir es hier in Gangelt dokumentieren können, daß einer der wenigen Juden, die den Krieg und die Nazizeit überlebt haben, begrüßen konnte. Ich danke Herrn Gemeindedirektor Beckers, daß er mir diesen Termin mitgeteilt hat und ich bin deswegen auch von Meckenheim absichtlich hier hergekommen, um nach dieser langen Zeit hier eine Wiederbegnung erleben zu dürfen. Ich danke sehr herzlich für den Bericht, den Du uns gegeben hast und wir hoffen, daß wir in Zukunft auch im Briefwechsel korrespondieren werden. Herzlichen Dank für Deinen Besuch in Gangelt.

Hans Beckers: Herr Rosendahl, ich hätte gerne doch noch einen Nachtrag hier zu Ihrer erschütternden Mitteilung, und zwar einige persönlichen Daten, wenn Sie uns die noch bitte auf die Platte, Geburtsdatum, und wie lange Sie hier in Gangelt gewesen sind, sagen wollen.

Helmut David Rosendahl: Mein Vater, Max Rosendahl, war in Gangelt geboren und mein Großvater ist in Gangelt auch begraben auf dem jüdischen Friedhof, sein Name war David Rosendahl. Meine Großmutter, ich glaube sie hieß, Fanni Rosendahl geb. Kaufmann. Mein Vater hat 1906 meine Mutter in Odenkirchen geheiratet. Meine Mutter hieß mit ihrem Mädchennamen Kussel und ist auch in Odenkirchen auf dem Friedhof begraben. Sie starb drei Wochen, nachdem ich geboren wurde.

Mein Vater ist ungefähr 1922 oder 1923 zurückgegangen nach Gangelt. Natürlich sind wir alle nach Gangelt gegangen, mein Bruder Erich, meine Schwestern Hilde und Meta. Wir sind in Gangelt zur Schule gegangen. Ich bin 1923 6 Jahre alt geworden, so bin ich dort zur Schule gegangen. Erst bei Lehrer Cleef, nachher bei Fräulein. Lellmann, dann bei Lehrer von den Driesch. Ich wohne jetzt in Van Nuys. Van Nuys ist eine Stadt, welche eine halbe Stunde oder 20 Minuten auf der Autobahn von Los Angeles entfernt liegt. Ich wohne dort die letzten 34 Jahre oder etwas mehr. 34 Jahre wohne ich in Los Angeles und …

Beruflich war mein Vater Pferdehändler. Ich habe in Schinveld das Anstreicherfach gelernt bei Familie Palant, der ein Freund meines Vaters war, weil niemand in Gangelt oder in Deutschland mir einen Beruf lernen wollte, weil ich Jude war. Nachher konnte ich nicht mehr in Schinveld bleiben, weil die holländische Regierung Schwierigkeiten machte. Es war aber ein jüdischer Anstreicher, Max Meier, in Mönchengladbach, wo ich dann weiterlernte. Dieser Max Meier hatte einen Holzfuß, welchen er vom Kriege 1914-18 her hatte. Er hatte 2 Kinder. Die Familie ist auch im Konzentrationslager umgekommen.

Von dem Lager bin ich nach Holland gegangen, habe dort die erste Zeit als Anstreicher gearbeitet und habe dann einen Mann, den ich kennenlernte im Lager, der ging nach Amerika und der hat mir die Papiere, die Einreisepapiere, für Amerika geschickt. Er hat mir eine EVD mitgeschickt. Weil er gerade nach Amerika kam, konnte er es selbst nicht machen, weil man eine Garantie stellen muß. Zu der Zeit, vor 5 Jahren, ist man zu einer ungarischen und jüdischen Familie gegangen und hat ihren gesagt: ich habe einen, den ich kenne, vom Lager, er möchte hierher kommen, und die Leute haben direkt gesagt: wir geben dir eine EVD mit. Die Leute haben mich niemals gekannt und wußten gar nicht, wer er war. Sie haben eine EVD für 65.000 Dollar zur Verfügung gestellt.

Ich bin dann nach Amerika gegangen und habe dort zuerst als Anstreicher gearbeitet, bin dann später übergegangen und habe dort als Hausmakler, das ist Hausvermittler, habe Häuser verkauft oder gekauft oder Leute die kaufen wollten oder was immer damit zusammenhing, das habe ich gemacht bis 25 Jahre. In den letzten 4, 5, 6 Jahren mache ich noch Verwaltungen. Daß ich die Häuser, die die Leute gekauft haben, verwalte und dann die Miete einkassiere wenn sie in Schwierigkeiten sind, das mache ich. Ich brauche mich nicht zu fühlen, daß ich schon nicht mehr weiter arbeiten kann und Arbeit, ist das, was ich immer will und bin damit zufrieden. Meine Frau ist in Los Angeles oder in Van Nuys. Ich habe eine Tochter, die wohnt ungefähr 20 Minuten von mir weg, sie heißt Lea. Ich habe eine andere Tochter, die wohnt bei Sacramento, das ist ungefähr 8 Stunden fahren von uns mit dem Auto. Sie wohnt dort mit ihrem Mann und 2 Kindern und ist zufrieden und das ist die Familie. Ich möchte noch eben beimerken. Wenn ein Mensch in einer Situation einen Gedanken bekommt und man soll niemals ein falsches Urteil geben. Ich habe im Lager mit Bekannten, die mit mir mitkamen, haben wir öfter gesprochen und natürlich, der Hunger war so groß, man hat oft an nichts anderes denken können. So habe ich folgendes gesagt: wenn jemand einen Mord begangen hat oder ein anderes Attentat verübt hat und dann als Strafe zum Tode verurteilt wird, dann darf er den letzten Abend noch sagen, was er will. Ich habe dann zu den Leuten gesagt: wir haben keinen Mord begangen, wir haben nichts getan, womit man uns verurteilen könnte. Wir sind zum Tode verurteilt, selbst eine Henkersmahlzeit gibt man uns noch nicht mal.


  1. Im Original als Triblinka ↩︎

  2. Albert Konrad Gemmeker, von Oktober 1942 bis April 1945 Kommandant des Lagers Westerbork Wikipedia, Im Original fälschlich Genecker↩︎

  3. Gliwice Wikipedia ↩︎

  4. Arbeitslager oder Konzerntrationslager Blechhammer, poln. Blachownia Śląska, Wikipedia ↩︎

  5. Gemeint ist hier eher das polnische Katowice (Kattowitz), nicht das tschechische Katovice (Katowitz), Wikipedia ↩︎

  6. Kopalnia Węgla Kamiennego Katowice, Wikipedia ↩︎

  7. Czernowitz. Zur Zeit der Erzählung Rumänien, zwischenzeitlich Sowjetunion, heute Ukraine. ↩︎

  8. Kamp Vught, Wikipedia, Im Original fälschlich Fürth ↩︎